15. April 2020
In
Kolumne
Was an der Corona-Krise am meisten frappiert, ist, dass eigentlich alles wie immer ist: Tage vergehen. Es gibt einen Morgen und einen Abend. Ein Dazwischen. Dann Schlaf. Oder Tod. Meistens Schlaf. Dazu Essen, Trinken, Verdauen. Gedanken haben und austauschen.
Und natürlich ist auch alles anders. Wer
hätte vor nur vier Wochen gedacht, dass man den Tag mit einem Blick auf die
„Infiziertenzahlen“ beginnt? Wie viele „Neu-Infektionen“ gibt es? Ich schaue
neuerdings auf die Robert-Koch-Instituts- und John-Hopkins-Statistiken wie
einst auf den Medaillenspiegel der olympischen Spiele. Auf welchem Platz liegt
Deutschland? Wie viele Medaillen haben die USA, die natürlich wieder in Führung
sind. Ich horche jeden Tag, was Lothar Wieler, der Chef des RKI zu sagen hat,
obwohl er immer dasselbe sagt, nämlich, dass er vorsichtig optimistisch ist, es
aber zu früh sei, um endgültige Aussagen zu treffen.
Währenddessen wird mein Leben immer
schlichter. Unglaublich, wieviel Abwasch auf einmal anfällt, wenn man nicht
mehr ausgehen kann. Mein Liebesleben ist seltsam sediert. Überhaupt bin ich verdammt
phlegmatisch. 80000 osteuropäische Erntehelfer werden eingeflogen, aber nur 50
minderjährige Flüchtlinge. Alles andere ist „unzumutbar“. Bin mir auf einmal nicht
sicher, ob bei 80000 Menschen die Chance auf einen Infizierten nicht deutlich
höher ist als bei 50… Und frage mich, ob die armen Flüchtlinge mehr Chancen
hätten, wenn sich einfach als „Rekrutierungs-Camp östlicher Erntehelfer“
umdeklarieren?
Aber damit kann ich mich – wie alle – nicht
aufhalten. Denn auf einmal ertönt eine Schalmei, so zuckersüß, so liebreizend,
dass man die täglichen Statistiken für einen Moment vergisst. „Die Wirtschaft
muss hochgefahren werden!“ schallt es aus allen FDP-nahen und nicht ganz so
nahen Ecken. Schrittweise Lockerung der Restriktionen – was noch vor kurzem wie
das langweilige Aufwärmen einer Senioren-Nordic-Walking-Gruppe klang, nämlich
„schrittweise Lockerung“ – verwandelt sich jetzt in ein Konzerto Furioso der
„Rückkehr zur Normalität“. Nun sei es dahingestellt, ob man hektisches
Rumreisen durch die Welt, Kreuzfahrten ohne Ende, den kurzen Wochenendtrip nach
Lissabon oder das Besaufen in einer Kneipe, um das eigene Elend oder das von
Hertha BSC zu vergessen (was häufig dasselbe ist) oder um zu vermeiden, einen
Moment der Untätigkeit zu erleben – ob man also all das als „normal“ empfindet.
Oder ob es normal ist, Flüchtlinge in griechischen Elendslagern der Pandemie zu
überlassen. Hauptsache runter vom heimischen Sofa und ran an den Speck. Immerhin
fordert es die Leopoldina, die auch vor vier Wochen noch keiner kannte. Aber es
gibt Gegenstimmen. Etwa die Helmholtz Gesellschaft – die warnt vor den Folgen
einer zu raschen Lockerung. In Ermangelung von Fußball geraten auch wissenschaftliche
Institute mittlerweile in einen Wettstreit: Bin ich für die Leopoldina? Oder
das Helmholtz-Institut? Gar fürs RKI? Oder doch lieber Hertha BSC?
Oder bin ich fürs Sofa? Müdigkeit überkommt
mich. Eigentlich ist doch alles wie immer. Tage vergehen… „Wann fahren wir
unser Liebesleben wieder hoch?“ fragt meine Frau. Ich „Lothar-Wielere“ zurück:
Ich bin vorsichtig optimistisch, aber es ist noch zu früh, um endgültige
Aussagen zu treffen…